Über den Unterschied zwischen Mitteilen und Übermitteln:

Mitteilen heisst, die Information im Raum verbreiten, übermitteln heisst, die Information in der Zeit ausbreiten. In diesem Sinn ist der Akt der Übermittlung das, was Kultur ausmacht und das was demnach den Menschen vom Tier unterscheidet. Die Tiere verständigen sich durch akustische, olfaktorische, visuelle Signale, aber die eine Generation übermittelt praktisch nichts an die nächste. Der Mensch hingegen ist das einzige Lebewesen, das sich an seine Vorfahren erinnert und erworbene Kenntnisse an seiner Kinder weitergibt, wodurch eine schöpferische Kontinuität entsteht. Er allein ist im Stande, eine Geschichte zu erzeugen, indem er die Erfahrungen der früheren Generationen sammelt und daraus Nutzen zieht. Wir verleihen unseren Symbolen schriftliche oder bildliche Gestalt, wir schreiben in die Materie ein, was sonst mit uns verschwinden würde. Es ist also die Materie, die die Existenz des Geistes gewährleistet – oder, anders ausgedrückt, die Technik, die die Kultur hervorbringt. Unter Technik subsumiere ich all das, was nicht zum genetischen Erbe der Spezies gehört und daher erlernt wird – auch die Schrift, während die Fähigkeit zur Sprache uns angeboren ist. Eben diese Übermittlung erworbener Eigenschaften erscheint heute extrem gefährdet: Die Kommunikation trachtet danach, die Transmission zu unterbinden oder zumindest zu erschweren. Man beherrscht den Raum immer besser, die Zeit indes immer weniger. Es mag konspirativ klingen, aber die Traditionen, die von der Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart zeugen, verblassen zusehends. Wir besitzen zwar außergewöhnliche Kommunikationsmittel, doch unsere Institutionen, die der Übermittlung dienen – Familie, Schule, Universität, Akademie, ja sämtliche Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens mit dem Auftrag, das geistige Vermächtnis lebendig zu halten -, sind großen Problemen ausgesetzt. Infolgedessen behaupte ich, dass nicht die Kommunikation die Grundlage einer Anthropologie bildet, sondern die Übermittlung; diese erklärt den Menschen, denn sie ist das ihm Eigentümliche.

Warum es dem Internet an der vertikalen Dimension, einer leitenden Idee, einer steuernden Instanz fehlt:

Die schwierige Frage, die mich beschäftigt und die ich wahrscheinlich nie beantworten kann, lautet: Was ist beim Menschen unveränderlich und was veränderlich oder veränderbar? Offensichtlich gibt es in der Natur einerseits Konstanten, die vom technischen Fortschritt unberührt bleiben, andererseits Variablen, die dessen tief greifendem Einfluss unterliegen. Beispielsweise haben wir seit der Erfindung der Schrift kein so gutes Gedächtnis mehr: schon Platon beklagte, dass wir durch die Schrift das Gedächtnis verlieren werden, weil wir unsere Gedanken und Erinnerungen auf Papyrus festhalten. … Der technische Fortschritt bewirkt also, dass wir Fähigkeiten einbüßen oder sie auf Träger außerhalb unserer selbst verlagern. Genau hierin offenbart sich ein Problem, das den Mediologen interessiert: Wie ernst muss man die Technik nehmen? Ich sage: Man muss sie ernster nehmen, als die Technophoben – stellvertretend sei Heidegger genannt – es zugestehen wollen. Für sie, die Metaphysiker, ist die Technik gleichbedeutend mit Entfremdung vom wahren Wesen des Menschen. In meinen Augen aber entwickelt sich der Mensch gerade mittels Werkzeuge zu dem, der er ihm Rahmen der Hominisation sein soll – er hat kein beständiges, unumschränktes Wesen, sondern ist ohne Unterlass im Werden begriffen: Die technischen Errungenschaften treiben ihn immer weiter voran. Das heisst jedoch nicht, dass ich einer Technophilie verfalle und vom Internet erwarte, ein für alle Mal die politischen Konflikte der Menschheit zu lösen. Vielmehr müssen wir unseren Kurs zwischen den beiden extremen Positionen steuern.

Zur Mediologie:

Die Mediologie ist keine exakte Wissenschaft – dem Terrorismus der Wissenschaftlichkeit will ich mich nicht beugen -, sondern eher ein Forschungsgebiet, eine Problematik, eine Weise, die Dinge zu sehen, eine Untersuchung der höheren sozialen Funktionen im Spiegel der Ideologie, der Kunst, der Religion, der Politik usw. sowie in ihrer Beziehung zu den zentralen Trägern der Übermittlung. Aus der mediologischen Perspektive kann man die Geschichte nach diesen Trägern einteilen – oder nach so genannten Mediosphären: Vom 15. Jahrhundert bis gestern prägte der Buchdruck die Graphosphäre, heute umgibt uns die Videosphäre, in der auf Grund eines veränderten Zeitempfindens der Augenblick über die Dauer triumphiert, das Direkte über das Indirekte, das Reaktive über das Diskursive, und diese Videosphäre wiederum geht bereits über in eine Hypersphäre, die sich hauptsächlich aus digitalen Signalen zusammensetzt.

Quelle: “Der Tod des Bildes erfordert eine neue Mediologie” Der französische Philosoph und Schriftsteller Régis Debray im Gespräch mit Constantin von Barloewen, FR vom 08.08.2001

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