Von Ralf Keuper

Es ist immer schwierig für eine Branche, die umgekrempelt (disrupted) wird, bei der Diagnose die nötige Selbstdistanz zu wahren, um zu einem möglichst objektiven Urteil zu gelangen. Die Medienbrache, die in den letzten Jahren von Facebook, Google, Amazon, Tencent und Apple umgepflügt wurde, bildet hier keine Ausnahme. Um die Situation einzuschätzen, bedient man sich des alten überlieferten Bezugssystems. Das hat zur Folge, dass die Medienunternehmen davon ausgehen, neue Mitbewerber wären Unternehmen, die nach den gleichen Regeln arbeiten wie sie selber: Print kombiniert mit online und Werbung. Bei einigen feingeistigen Insidern kommt evtl. die Frage auf, ob die Inhalte nun durch Werbung oder per Abo oder mit einem anderen Bezahlmodell finanziert werden sollen. Ansonsten geht es wie immer darum, mit den eigenen Inhalten und Distributionskanälen so viel Leser und Zuschauer an sich zu ziehen wie möglich. Wer da sonst noch vermittelte, war mehr oder weniger unwichtig, da – mangels Content – kein potenzieller Mitbewerber.

So überrascht es nicht, dass neue Mitbewerber erst spät auf dem Radar als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen werden. Man hielt sie für keine Artgenossen. Irgendwann kam dann der Tag, an dem die Brancheninsider – völlig überraschend – feststellen mussten, dass die neue Art doch irgendwie der eigenen Gattung anzugehören schien bzw. man selber hatte sich in eine neue Gattung verwandelt, ohne dass einem dies bewusst war. Facebook, gestartet als soziales Netzwerk, hat sich über die Jahre zu einem Medienkonzern entwickelt, der die Verteilung und Bepreisung der Medieninhalte übernommen hat. Google, lange Zeit als  unverdächtige Suchmaschine eingeordnet, beherrscht zusammen mit Facebook den Markt für Onlinewerbung, auf den die Medienbranche angewiesen ist. Nicht nur das: mittlerweile sind Facebook und Google dabei, andere Arten zu assimilieren. Vor allem die Abwicklung von Geldgeschäften hat es ihnen angetan. Geld, das haben die klassischen Medienhäuser bis heute nicht wirklich verstanden, ist das „Medium schlechthin“. Wer auch immer bei den Medien ein gewichtiges Wort mitreden will, braucht dazu den direkten Zugang zum Medium Geld. Google hat mit Google Pay und weiteren Finanzdienstleistungen darauf reagiert, Apple mit Apple Pay und Apple Card und Facebook nun mit Libra und Calibra. Doch damit nicht genug. Ebenfalls ins Visier genommen haben die Internetkonzerne die neuen Währungen: Digitale Währungen und Digitale Identitäten. Und demnächst noch: Das Internet der Dinge (IoT). Die Medienbranche hat es versäumt, sich mit dem Hauptgegenstand ihres Geschäfts, den Medien, auseinanderzusetzen. Ted Levitt empfahl Unternehmen, die das Gefühl hatten, nicht mehr am Puls der Zeit zu sein, sich zu fragen: In welchem Geschäft sind wir eigentlich? Statt die Medien der Kooperation und die Mediatisierung zu thematisieren, hat man es bei der Betrachtung von Einzelmedien belassen, die irgendwie parallel nebeneinander existierten. Spätestens mit dem Smartphone hat sich das grundlegend gewandelt. Ist Facebook jetzt ein Technologieunternehmen, eine Bank, ein Medienunternehmen oder ein Werbekonzern? Die Frage, ob die Medienunternehmen überhaupt noch Medienunternehmen sind, kommt auch der Kritik nicht in den Sinn. Die Dinge gehören irgendwie nicht zueinander. Bertelsmann, Springer auf der einen, Apple, Google und Amazon auf der anderen Seite. Dass die Machtverhältnisse sich schon längst verschoben, Bertelsmann und Springer bestenfalls noch als Zulieferer auf Zeit benötigt werden, diesen Gedanken zu Ende denken nur die allerwenigsten. Das Ergebnis wäre auch frustrierend. Die Medienindustrie, wie viele Insider sie noch gekannt haben, löst sich gerade vor ihren Augen auf. Die Heroen und Kategorien der Vergangenheit, wie Axel Springer, Leo Kirch, Gerd Bucerius, Reinhard Mohn, Bertelsmann, Springer, Burda, Bauer, Spiegel, FAZ, SZ, links und rechts. Auf einmal sind diese Kategorien hinfällig geworden. Das Koordinatensystem hat sich verändert. Folge ist, dass die meisten Journalisten, Verleger und Kommentatoren orientierungslos geworden sind. Die eigenen Arbeitgeber haben mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, die guten alten Zeiten, diese Erkenntnis reift indes, sind vorbei. Man ist auf einmal Angehöriger einer Krisenbranche, die man selber in der Vergangenheit immer woanders, nur nicht bei sich selber verortet hat, wobei man, wie die Wirtschaftsredaktionen der FAZ und SZ, selten mit radikalen Vorschlägen gegeizt hat. Jetzt ist das eigene Haus ein Sanierungsfall; andere neue Medienformate, wie auf YouTube, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Das ist schon bitter für das alte Selbstbild und Rollenverständnis, ändert jedoch nichts an den neuen Gegebenheiten: Die Entstehung neuer Medienunternehmen mit einen Aktionsradius, wie er für Bertelsmann weit außerhalb der eigenen Möglichkeiten liegt. Wenn jetzt noch die als Rettungsanker für die Medienbranche gehandelte Blockchain von Facebook okkupiert und zweckentfremdet wird und neue Ökosysteme entstehen, wenn Facebook sogar nicht davor zurück schreckt, sich selbst zu disrupten, spätestens dann sollten sich die Insider der Branche die Frage stellen, ob sie die Zeit nicht verschlafen haben, zumal alle anderen Akteure in der Wirtschaft ihre Schlussfolgerung bereits gezogen haben. Ob die Medienunternehmen das nun akzeptieren oder nicht, fällt nicht mehr ins Gewicht.

Von McLuhan