Von Ralf Keuper
Es ist mittlerweile beliebt, das Internet, oder genauer, die intensive Nutzung sozialer Netzwerke zu bezichtigen, die Privatsphäre aufzulösen. In der Tat traten in der Vergangenheit einige Lichtgestalten der Szene, wie Mark Zuckerberg, mit markigen Sprüchen auf, wonach das Ende der Privatsphäre gekommen sei. 
Als einer der wortgewaltigsten Vertreter einer betont kritischen Haltung dem Gebrauch der sozialen Netzwerke gegenüber, hat sich der Soziologe Harald Welzer in der letzten Zeit positioniert, wie in seinem Interview mit der Frankfurter Rundschau vor einigen Tagen. 
Darin stellt er u.a. ein Schwinden der Privatheit fest. Im digitalen Totalitarismus sei dafür kein Platz mehr:

Die entscheidende Verwandtschaft zwischen politischem und digitalem Totalitarismus liegt in der Zerstörung der Privatheit, die das Individuum schutzlos macht. Günther Anders hat dazu schon in den sechziger Jahren gesagt, „der Einzelne ist das erste besetzte Gebiet“.

Da klingt durch die Zeilen der übliche Kulturpessismus. Dennoch muss man Welzer zugestehen, hier einen wunden Punkt getroffen zu haben. Denn mit der Privatheit im Internet ist es derzeit tatsächlich nicht gut bestellt. Noch verhalten wir uns im Internet so, wie unsere Vorfahren in der Steinzeit, die sich nackt in der gefahrvollen Umwelt bewegten, wie einer der Verfasser des Cluetrain Manifests, Doc Searls, in einem Interview mit der SZ zu Protokoll gibt

Das Netz ist keine Kathedrale, es steht höchstens das Baugerüst. Denken Sie an Privatsphäre, die war zunächst nicht mal Teil des Designs. Die ursprünglichen Internet-Protokolle wurden entwickelt, damit wir uns vernetzen. Es war ein bisschen wie im Garten Eden, wir sprangen nackt umher. In der physischen Welt haben wir 10.000 Jahre dafür gebraucht, so etwas wie Privatsphäre zu entwickeln und uns Kleidung anzuziehen. Im Netz sind wir nackt und Firmen nutzen das aus. Wir müssen das Äquivalent zu Bekleidung erst noch entwerfen.

An diesem Punkt stehen wir. Es ist daher übereilt, wie Welzer und Enzensberger, in einer demonstrativen Geste, Smartphones und soziale Netzwerke zu verdammen. Das ist bestenfalls reaktionär und doch wirklichkeitsfremd. 
Ähnliche Forderungen wurden bereits zu Zeiten der Einführung des Buchdrucks von Klerikern und Gelehrten erhoben. Das legt sich.
Noch einmal Doc Searls:

Ich bin hin und hergerissen: Ich mag Facebook nicht und wie extrem die Privatsphäre dort durch das Geschäftsmodell verletzt wird. Mir wäre es lieber, sie würden Geld verlangen. Aber sie machen einen guten Job, ich bin sehr beeindruckt von ihrem technischen Unterbau.

Wir sind insgesamt jedoch zu verwundbar, weil so viel von unserem Leben in den Datenbanken dieser Unternehmen existiert. Wenn wir Google und Facebook wie eine Infrastruktur behandeln würden, wie Straßen oder Kraftwerke, würden Beamte sie immer wieder inspizieren, damit nichts falsch läuft. So aber weiß niemand, was dort passiert, die Datenzentren sind absolut blickdicht.

Digitalen Totalitarismus bekommen wird dann, wenn dem Datendurst der Internetkonzerne und weiterer Institutionen keine Grenzen aufgezeigt werden. 
Die eigentliche Bedrohung geht nach den Worten des ehemaligen Bundesinnenministers Gerhart Baum weniger von den großen Datenkraken, sondern vielmehr von einem Überwachungsstaat aus, der sich unter dem Hinweis auf Prävention berechtigt sieht, alle möglichen Daten auf Vorrat zu speichern:

Immer wieder sammelt der Staat Informationen über gänzlich unverdächtige Bürger, sei es in Form biometrischer Fingerabdrücke für Reisedokumente, sei es durch die Speicherung ihrer Kommunikationsverbindungen für die Zeit von sechs Monaten – auf “Vorrat”. “Vorrat” bedeutet: Man sammelt erst einmal, ohne genau zu wissen, ob man diese Informationen irgendwann einmal braucht, etwa für Ermittlungen im Rahmen einer Straftat. .. Zusammengetragen werden Millionen privater Daten. Bezogen auf den einzelnen Menschen geben sie zum Beispiel Auskunft darüber, wer wann mit wem kommuniziert hat. Soweit es den Handy-Verkehr angeht, geben sie auch Auskunft über den Aufenthaltsort des Handybenutzers. Auf diese Weise wandern immer mehr private Daten unverdächtiger Bürger in die staatlichen Datenvorratskammern (in: Rettet die Grundrechte! Bürgerfreiheit contra Sicherheitswahn. Eine Streitschrift) 

Vor diesem Hintergrund ist naiv, zu glauben, durch einen Verzicht auf den Gebrauch moderner Kommunikationsmittel könne man dem Verlust der Privatsphäre entgehen. Stattdessen ist es in der Digitalmoderne Aufgabe der Bürger, ihre legitimen Rechte gegen staatliche und die Übergriffe anderer geltend zu machen. Das ist eine Daueraufgabe. Rückzug in die Höhle, in die heimelige Vergangenheit, hilft da nicht wirklich. Im Gegensatz zu den Überwachungsmethoden der echten totalitären Regimes, ist unsere Ausgangslage und unser Informationsstand weitaus besser. Wer will, kann sich einen Überblick verschaffen und an dem Diskurs teilnehmen. 

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