Während in angelsächsischen Ländern die „Watchdog“-Funktion des Journalismus tief verwurzelt ist, kämpft die deutsche Medienlandschaft seit Jahrzehnten mit dem Vorwurf der Autoritätsgläubigkeit. Ein Blick auf die wenigen Ausnahmen – von Tucholsky bis Merseburger – zeigt, was deutscher Journalismus sein könnte, aber selten war.


Es ist ein Vorwurf, der den deutschen Journalismus wie ein Schatten begleitet: die mangelnde Distanz zur Macht, die Neigung zum „Verlautbarungsjournalismus“, die Autoritätshörigkeit. Während in den USA oder Großbritannien die Presse traditionell ihre Rolle als gesellschaftliches Korrektiv versteht, als unbequemer Wächter der Demokratie, dominiert in Deutschland ein anderes Selbstverständnis – eines, das Konsens über Konflikt, institutionelles Vertrauen über skeptische Distanz stellt.

Diese Unterschiede sind nicht zufällig entstanden. Sie wurzeln in verschiedenen journalistischen Kulturen und historischen Erfahrungen. Während sich angelsächsische Medien als Gegengewicht zur Macht begreifen und den Konflikt als Motor des demokratischen Diskurses verstehen, sieht sich der deutsche Journalismus oft als Teil des gesellschaftlichen Konsenses. Eine Haltung, die durchaus konstruktiv sein kann – aber auch gefährlich wird, wenn sie kritische Distanz und investigative Autonomie einschränkt.

Besonders deutlich wurde diese Tendenz während der Corona-Pandemie, als sich viele deutsche Redaktionen eng an den Positionen der Bundesregierung orientierten und abweichende wissenschaftliche Einschätzungen marginalisierten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die großen Leitmedien gerieten in die Kritik, mehr Sprachrohr als Kontrollinstanz gewesen zu sein. Gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in großen Leitmedien zeigen sich eine gewisse Zurückhaltung gegenüber offener Regierungskritik, eine Tendenz zur Übernahme offizieller Narrative und ein Mangel an investigativer Distanz.

Die historischen Ausnahmen

Doch es gab sie, die Ausnahmen. Journalisten, die bewiesen haben, dass deutscher Journalismus durchaus anders kann – wenn er will.

Kurt Tucholsky war eine dieser seltenen Stimmen. Mit seiner satirischen, politisch unbestechlichen Feder wurde er zur schärfsten intellektuellen Stimme der Weimarer Republik. Tucholsky kritisierte nicht nur autoritäre Strukturen, die Justiz und den preußischen Militarismus, sondern prangerte auch die gesellschaftliche und politische Nachgiebigkeit gegenüber Nationalismus, rechter Gewalt und antidemokratischen Tendenzen an. Sein Ziel war es, das Selbstbewusstsein der Bürger gegen Obrigkeit und Duckmäusertum zu stärken und republikanische, demokratische Werte zu verankern.

Carl von Ossietzky, Chefredakteur der „Weltbühne“, kämpfte zeitlebens für Pressefreiheit, Pazifismus und parlamentarische Demokratie. Seine unerschrockene Kritik an staatlichem Machtmissbrauch, am Aufstieg des Militarismus und an der mangelnden Aufarbeitung der kaiserzeitlichen Eliten brachte ihm eine Haftstrafe wegen „Landesverrats“ und letztlich den Friedensnobelpreis ein. Ossietzky betonte stets die Notwendigkeit journalistischer Unabhängigkeit und den Widerstand gegen jede staatliche Einengung von Meinungsfreiheit – auch, weil er erkannte, wie eng Medien und Staat im „Meinungskartell“ verflochten waren.

Maximilian Harden prägte bereits im Kaiserreich das politische Feuilleton durch seine unabhängige, oft bissig-polemische Berichterstattung. Als Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift „Die Zukunft“ entwickelte er sich von einem konservativen Monarchisten zum scharfen Kritiker von Kaiser Wilhelm II. und dessen autoritärem System. Harden nutzte seinen publizistischen Einfluss, um Skandale und politische Missstände offenzulegen, etwa in der sogenannten „Eulenburg-Affäre“. Seine beharrliche Kritik führte zu mehreren Prozessen wegen Majestätsbeleidigung und mehreren Haftstrafen, was seine kompromisslose Haltung gegenüber staatlicher und politischer Macht eindrucksvoll unterstreicht.

Weitere Namen ergänzen diese Tradition: Egon Erwin Kisch, der „rasende Reporter“, stand für aufklärerischen und investigativen Journalismus und scheute sich nicht, gesellschaftliche Missstände und staatliche Repressionen öffentlich zu machen. Emil Stumpp wurde als Pressezeichner für seine kritischen Karikaturen der NS-Führung berüchtigt – nachdem er 1933 ein unvorteilhaftes Porträt Hitlers veröffentlichte, wurde er massiv verfolgt, verlor seine Existenzgrundlage und starb später in Haft. Viele Redakteure und Kommentatoren liberaler Blätter wie der „Vossischen Zeitung“ riskierten in der Weimarer Republik mit staatskritischen Beiträgen offene Repressionen und Berufsverbote.

Kontinuität in der Bundesrepublik

Auch in der Bundesrepublik gab es sie, die Ausnahmen: Marion Gräfin Dönhoff prägte als langjährige Chefredakteurin und später Herausgeberin der „Zeit“ den politischen Diskurs nach 1945 entscheidend und etablierte das Blatt als Plattform für kritische Intellektuelle und offene gesellschaftliche Debatten. Unterstützt wurde sie dabei von Gerd Bucerius, dem Verleger mit Rückgrat, der als Mitgründer der „Zeit“ die nötigen Strukturen schuf, um unabhängigen Journalismus zu ermöglichen. Sie kritisierte ebenso Willkür der Besatzungsmächte wie auch das autoritäre Denken der deutschen Nachkriegszeit und trat offen für Versöhnung, Liberalität und politische Vernunft ein. Dönhoff legte Wert auf rationalen Diskurs, die Entemotionalisierung aufgeheizter Debatten und betonte regelmäßig die Notwendigkeit, unabhängig und auch gegen den Mainstream Standpunkte zu vertreten.

Peter Merseburger wurde mit seinem Wirken für das ARD-Magazin „Panorama“ zur Symbolfigur für kritischen, investigativen Rundfunkjournalismus in der Bundesrepublik. Er galt als streitbar und unabhängig, stellte sich auch gegen politische Interventionen und thematisierte systematisch Tabus wie den Paragrafen 218, Skandale und die Nähe von Parteien zu extremistischen Kreisen. Sein journalistischer Grundsatz war ein antiautoritäres, aufklärerisches Denken, dem er mit Hartnäckigkeit und Widerstandskraft nachging – auch auf die Gefahr hin, institutionellen oder parteipolitischen Widerstand zu provozieren.

Die deutsche Mentalität

Von Tucholsky bis Merseburger verkörpern diese Journalisten eine Tradition, die in Deutschland stets eine Ausnahme blieb: kompromissloser, staatskritischer Journalismus, der sich bewusst gegen Mehrheitsdruck und autoritäre Versuchungen stellte. Sie zeigten, wie relevant und notwendig unabhängige Medien als Korrektiv für jede Demokratie sind.

Die Frage ist: Warum blieben sie Ausnahmen? Warum konnte sich diese Haltung nicht durchsetzen in einem Land, das heute zu den stabilsten Demokratien der Welt zählt?

Die Antwort liegt möglicherweise in jener Mentalität, die Heinrich Mann in seinem Roman „Der Untertan“ (1918) so treffend diagnostizierte: dem deutschen Hang zur Autoritätshörigkeit, dem Buckeln nach oben und Treten nach unten. Diederich Heßling, Manns Protagonist, verkörpert eine Geisteshaltung, die auch heute noch in Redaktionsstuben zu finden ist – die instinktive Ehrfurcht vor der Macht, die Scheu vor dem offenen Konflikt mit Autoritäten.

Diese historisch gewachsene Tradition des obrigkeitsorientierten Denkens, verstärkt durch die Nähe zwischen Medien und staatlichen Institutionen, prägt ein journalistisches Selbstverständnis, das Harmonie über Widerspruch stellt. Während angelsächsische Medien den demokratischen Streit als produktiv begreifen, herrscht in Deutschland oft die Vorstellung vor, Journalismus müsse zur gesellschaftlichen Befriedung beitragen – eine Haltung, die verdächtig an Heßlings Sehnsucht nach Ordnung und Konsens erinnert.

Dahrendorfs Warnung

Doch Demokratie lebt vom Widerspruch, von der permanenten Infragestellung der Macht. Der Soziologe Ralf Dahrendorf brachte diese Erkenntnis auf den Punkt: „Für die Verfassung der Freiheit ist die Herrschaft des Rechts weniger wichtig als die Lebendigkeit des Konfliktes.“ Dahrendorf warnte vor der deutschen Neigung, Konflikte durch den Verweis auf vermeintlich überparteiliche Instanzen zu vermeiden – eine Haltung, die er als „Aversion gegen Konflikt“ und „Ausweichen vor der unbequemen Liberalität der Ungewißheit“ beschrieb.

Im übertriebenen Glauben an den Rechtsstaat als Institution jenseits der Interessenkämpfe liegt letzten Endes dieselbe Konfliktscheu wie im deutschen Begriff des Staates überhaupt. Die liberale Demokratie wird weniger dadurch gefährdet, dass sich ein Politiker etwas außerhalb der Legalität bewegt, als dadurch, dass die Suche nach vorgeblich überparteilichen Instanzen in der Überschätzung von Experten, Einheit und Verwaltung institutionelle Gestalt annimmt. Wie Dahrendorf erkannte, kann diese Haltung „autoritäre Wirkungen entfalten, auch wenn niemand mehr Herr sein will.“

Genau diese Mentalität prägt auch den deutschen Journalismus: die Suche nach dem Konsens, das Vertrauen in Experten und Institutionen als neutrale Schiedsrichter, die Scheu vor der „unbequemen Liberalität“ des offenen Streits.

Fazit

Demokratie braucht Journalisten wie Tucholsky, Ossietzky, Harden, Dönhoff und Merseburger – Menschen, die bereit sind, unbequem zu sein, Autoritäten zu hinterfragen und den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Sie braucht die „Lebendigkeit des Konfliktes“ mehr als die vermeintliche Objektivität des Konsenses.

Der Ruf nach mehr Unabhängigkeit, Skepsis und investigativer Autonomie wird in Deutschland immer lauter. Es wird Zeit, dass die deutsche Medienlandschaft von ihren eigenen kritischen Vorbildern lernt – und die seltene Kunst der Kritik wieder entdeckt. Denn wie Dahrendorf warnte: „Die Demokratie braucht Liberalität dringender als die Moralität.“


Quellen:

Der Übertriebene Glaube An Den Rechtsstaat Als Institution Jenseits Der Interessenkämpfe (Ralf Dahrendorf)

Der deutsche Journalist leidet unter gottgewollten Abhängigkeiten (Carl von Ossietzky)

Wie Journalisten mit den Mächtigen klüngeln

Von McLuhan