Von Ralf Keuper
In Zeiten, in denen auf nahezu allen Kanälen von der Digitalisierung die Rede ist, hat es das Papier schwer, sich Gehör zu verschaffen. Papier steht, wie kein anders Medium, in dem Ruf, ein Relikt der Vergangenheit zu sein; die Überwindung des Papierzeitalters kann einigen gar nicht schnell genug gehen – vom papierlosen Büro bis hin zum mobilen Bezahlen. Alles, was im Bereich der Kommunikation auch nur entfernt den Eindruck von Stofflichkeit erweckt, gilt als schleunigst zu überwindendes Hindernis auf dem Weg in die Digitalmoderne.
Wie sehr wir dem Papier dabei Unrecht tun, verdeutlicht Lothar Müller in seinem Beitrag Das Papier, die Druckerpresse und die digitalen Technologien. Bei dem Papier handelt es sich um eine Technologie, der ein jahrhundertelanger Entwicklungsprozess vorausgegangen ist.
Das Papier ist eine künstlich hergestellte Substanz, deren Rohstoff seinerseits ein Zivilisationsprodukt ist. Zwar waren auch der Papiermaulbeerbaum der Chinesen und die Papyrusstaude der Ägypter nicht lediglich »Natur«, sondern Kulturpflanzen, in deren Bewirtschaftung Energien der sie umgebenden Zivilisation einflossen. Das Hadernpapier aber löste sich von den Naturbindungen, die dem im subtropischen Klima Südchinas heimischen Papiermaulbeerbaum wie dem Papyrus Grenzen der Ausbreitung setzten. Es konnte seinen Rohstoff überall dort finden, wo Menschen lebten, die geeignete Kleidung trugen und Handel trieben.
Entscheidend ist vor allem die Bemerkung:
Das Papier wurde kraft dieser Lösung von einem naturalen, lokal gebundenen Rohstoff prinzipiell offen für die universelle Ausbreitung. Es nahm den nomadischen Charakter, den es als Fernhandelsprodukt angenommen hatte, in seine materielle Struktur auf und setzte der Überwindung lokaler Produktionsgrenzen wenig Widerstand entgegen.
Als universelles Trägermedium war das Papier mit neuen Technologien leicht kompatibel:
Das Papier hatte sich, als es mit der Druckerpresse fusionierte, bereits als eigenständiges, nicht dominantes Medium etabliert, durch seine offene Struktur und universelle Orientierung in der Summierung von Routinen an Bedeutung gewonnen, indem es als Bedingung der Möglichkeit anderer Medien auftrat. Zu dieser offenen Struktur gehört auch, dass das Papier sich auf die Rolle eines unscheinbaren Agenten der Verschriftlichung und Wissensproduktion nicht festlegen ließ. Es diente nicht nur den Medien der Abstraktion und Verschriftlichung, die wir heute als Keime der Wissensgesellschaft begreifen, es diente ebenso sehr dem Spiel und der Vergnügungssucht.
Daneben ist Papier ein wichtiges Speicher- und Zirkulationsmedium, das jedoch auf bestimmte Transport-Infrastrukturen angewiesen ist:
Papier ist ein relativ leichtes Trägermedium, das aber als physisches Objekt den Raum durchqueren muss, also an die Infrastruktur des Transports gebunden ist, in der auch die Reisenden verkehren. Nur im Bündnis mit dieser Infrastruktur kann es zum Zirkulationsmedium werden und seine arabischen Abenteuer erleben, kann es unverzichtbar werden für die Kaufleute und Finanziers im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts, am Hof des Papierkönigs Philipp II. in Spanien Karriere machen und von der Druckerpresse profitieren. Seine Bündnisoffenheit und Fähigkeit zur Einnistung in eine Vielfalt von Routinen setzen das Papier in Spannung zur Vorstellung des abgeschlossenen Behälters, die sich im Umkreis der Speichermetaphorik leicht einstellt, zumal im Blick auf das Buch. Das Papier ist ein Speichermedium mit offener Struktur und ein Zirkulationsmedium mit hinreichenden Optionen der Geschlossenheit als Speicher.
Besonders augenfällig wird diese Abhängigkeit von öffentlichen Infrastrukturen am Beispiel des Postwesens:
Das Zusammenspiel des Trägermediums Papier mit der Infrastruktur des Postwesens transzendiert die Polarität von Druck und handgeschriebenem Manuskript. Zahllose Briefe gingen in den Druck ein, aber sie blieben stets nur eine Teilmenge des ungedruckt zirkulierenden Papiers, das in der Nicht-Überlieferung verschwand. … Der Kern des neuen Mediums, das haben sowohl die Zeitungshistoriker wie die Geschichtsschreiber des Postwesens gezeigt, war die Fusion der papiergestützten, handgeschriebenen Korrespondenzen, die schon im weit gespannten Kommunikationsnetz der Fugger zirkulierten, mit der Infrastruktur der Reichspost. Der Übergang von der handschriftlichen zur typografischen Reproduktion, die Einspeisung des neuen Papiermediums in die Druckerpresse – mit zunächst geringen Auflagen zwischen 100 und 300 Exemplaren – war der zweite Schritt. Er ließ sich im Prinzip wieder rückgängig machen.
Man tut daher gut daran, das Papier nicht voreilig abzuschreiben 😉
Weitere Informationen:
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