Der SPIEGEL war zu keiner Zeit ein Blatt der Aufklärung. Auch nicht in den frühen siebziger Jahren, als die Mannschaft vorübergehend sich links anhauchen ließ und sogar Augstein an der Gründung einer kritischen Wochenzeitschrift laborierte – die, wäre sie zustande gekommen, nur zu einem Gegen-SPIEGEL hätte geraten können. Augstein ließ denn auch das Experiment, für das er keine brauchbaren Editoren und Schreiber fand, schnell wieder fallen. Er begriff damals seine und des SPIEGELS Grenzen. Er konnte höchstens ein markttüchtiges Ersatzprodukt für Aufklärung liefern. Mit seiner Nachahmung des Aufklärungsgeistes für die fortschrittsbewussten Neukleinbürger der Bundesrepublik kam er den Gegnern der Aufklärung näher, als seine Leute das wahrhaben wollten. Diese meist sehr begabten Journalisten konnten ja auch nicht zugeben, dass sie mit dem Eintritt in die SPIEGEL-Maschine und dem Verzicht auf den eigenen Namen ihren Anspruch als Intellektuelle und Männer der Aufklärung verwirkt hatten. Die Form der Organisation, in der sie als Kameradschaft von muckrackers arbeiten mussten, ist der Vernünftigkeit der Aufklärung feindlich. Das ist für die jüngste Generation der SPIEGEL-Macher ohnehin kein Gedanke mehr, der sie plagen könnte. …

Wie jede SPIEGEL-Nummer ein fugenloses Massivprodukt sein soll, so auch jeder Artikel. Man soll sich nach seiner Lektüre nicht zu weiterer Auskunft aufgefordert fühlen und soll sicher sein, dass anderswo nichts Interessantes mehr zu finden ist. Dass dies dem SPIEGEL über mehr als drei Jahrzehnte gelungen ist, gehört zu den technischen Großleistungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Der SPIEGEL hat es damit erreicht, dass er immer in ganzem Umfang von seinem Publikum gelesen wurde. Die meisten SPIEGEL-Leser konnten damit die erste Wochenhälfte füllen und verlangten danach nicht mehr viel, oft nicht einmal die Tageszeitung. …

Der SPIEGEL hat die Chance, auf die er eine Anwartschaft noch hatte, ausgeschlagen. Heute kann sich auch Augstein, der bereits vor mehr als einem Jahrzehnt resigniert hat, über Deutschland nicht mehr grämen. Als Fatalisten, die sich so lange auf die Selbststeuerung ihres in der Bonner Republik noch immer seetüchtigen Vehikels verlassen konnten, werden die SPIEGEL-Leute nicht mehr auf Rettung sinnen. Dazu müssten sie erst zur Krise fähig sein. An dieser Fähigkeit ist zu zweifeln.

Quelle: Die Demokratiemaschine. Der SPIEGEL ist in die Jahre gekommen – Ein Gedenkblatt zum 50. Geburtstag, Autor: Claus Koch, in: Süddeutsche Zeitung vom 11/12. Januar 1997

Von McLuhan