In einer Gesellschaft mit allgemeinem Volksunterricht, allgemeiner und unmittelbarer Publizität des täglichen Geschehens und weit durchgeführter Arbeitsteilung sieht sich der Durchschnittsmensch stets weniger auf eigenes Denken und eigenen Ausdruck angewiesen. Das kann vielleicht einen Augenblick paradox erscheinen. Man nimmt ja gewöhnlich an, dass in einem Kulturmilieu von geringerer intellektueller Intensität und geringerer Verbreitung des Wissens, das beschränkt und beherrscht ist durch den engen Kreis der eigenen Umgebung, das Denken der einzelnen stärker gebunden bleibe als in einem höher entwickelten Milieu. Man schreibt solch einem primitiven Denken, den Charakter des Typischen, des notwendig Gleichförmigen zu. Demgegenüber steht die Tatsache, dass ein solches Denken, das ausschließlich auf die eigene Lebenssphäre gerichtet ist, mit beschränkteren Mitteln und innerhalb eines engeren Horizontes einen Grad von Selbständigkeit erreicht, der in mehr durchorganisierten Perioden verlorengeht. Der Bauer, der Schiffer oder Handwerker früherer Zeiten fand im Schatz seines praktischen Könnens das geistige Schema, an dem er das Leben und die Welt mass. Er wusste, dass er unbefugt sei zum Urteil über alles, was außerhalb dieses Gesichtskreises lag, er müsste denn ein Schwätzer gewesen sein, den es in jeder Zeit gibt. Er anerkannte Autorität, wo er wusste, dass sein eigenes Urteil nicht zureiche. Und es war gerade die Beschränktheit seiner Ausdrucksmittel, die, gestützt von den Pfeilern der heiligen Schrift und des Sprichworts, im Stil gab und ihn bisweilen beredt erschienen ließ.
Die moderne Organisation der Wissensverbreitung führt nur allzu sehr zum Verlust der heilsamen Wirkungen solcher geistigen Beschränkungen. Der Durchschnittsmensch in den westlichen Ländern der Gegenwart ist unterrichtet über alles und noch über mehr. Er hat die Zeitung auf dem Frühstückstisch und hat den Knopf des Radios in Reichweite. Für den Abend erwartet ihn ein Film, ein Kartenspielchen oder eine Versammlung, nachdem er den Tag in einem Werk oder einem Geschäft verbracht hat, das ihn nichts Wesentliches lehrt. Mit geringen Unterschieden gilt dies Bild, als niedriger Durchschnitt, vom Arbeiter bis hinaus zum Direktor. Nur der Trieb zur eigenen Bildung, gleichgültig am welchem Gebiet und mit welchen Vorkenntnisse oder Mitteln er ihm auf folge, erhebt ihn über dies Niveau. …
In der modernen Kultur hat sich dies alles für den weitaus grössten Teil verschoben zu einem: man lässt sich vorsingen, vortanzen, vorspielen. Es ist selbstverständlich, dass das Verhältnis: Ausführende und Zuschauer, etwas ursprünglich Gegebenes ist, auch in der frühesten Kultur. Aber das passive Element nimmt andauernd zu, verglichen mit dem aktiven. … Die Kunst des Zuschauens wird umgewandelt zu einer Fertigkeit im schnellen Wahrnehmen und Begreifen ständig wechselnder visueller Bilder. Die Jugend hat diesen kinematischen Blick in einem Grund erworben, der den Älteren verblüfft. Mit dem allem bedeutet diese veränderte geistige Einstellung eine Ausschaltung von ganzen Reihen intellektueller Funktionen. Man gebe sich Rechenschaft vom Unterschied zwischen dem verstehenden Mitmachen eines Lustpiels von Molière und demjenigen eines Films. Ohne das intellektuelle Verstehen über das Visuelle erheben zu wollen, muss man doch zugeben, dass das Kino eine Gruppe von ästhetisch-intellektuellen Wahrnehmungsmitteln ungeübt lässt, was zur Schwächung des Urteilsvermögens beitragen muss.
Quelle: Im Schatten von morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit, Leiden 1935