Wenn etwas überholt ist, so die motorielle Beschleunigung. Die Beschleunigung der Wahrnehmung ist gerade dabei, unser Verhältnis zu den Phänomenen drastisch zu verändern. Die Phänomenologie ist keine Utopie, sondern eine Wahrscheinlichkeit. ..
Der Unterschied zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ist der Anfang der Repräsentation, und die Phänomenologie ist Repräsentation, keine Wahrheit, sondern Wahrscheinlichkeit. Es gibt etwas, was verloren ist, weil wir Menschen sind und eben nicht Gott. Man erreicht die Wahrheit der Phänomene nur über die Wahrscheinlichkeit, und diese verlief bisher über die direkte Wahrnehmung, das Analoge und die malerische, fotografische oder skulpturale Repräsentation. Das alles waren analoge Bilder. Über virtuelle Bilder betreten wir ein Gebiet, wo die Realität sich verdoppelt. Einerseits ist sie durch Phänomene, die nicht verschwinden dürfen, sowie durch die Repräsentation stets die gleiche. Andererseits wird sie repräsentiert per Digitalisierung. Was man virtuelle Realität nennt, ist völlig kalkuliert, völlig berechnet und völlig unabhängig von der analogen, der visuellen, auditiven sowie anderen Repräsentationsarten. Es handelt sich um eine Verdoppelung der Phänomene. Wenn ich beispielsweise virtuelle oder aktuelle Realität sage, so habe ich bereits eine Verdoppelung. Die aktuelle Realität ist bereits auf verschiedene Weise von der virtuellen verseucht.
So besteht das Risiko, dass das Analoge ganz und gar verloren geht. Das zeigt sich, sobald wir die Herrschaft einer Technik über alles andere betrachten. Wenn alle analogen Repräsentationen, wenn sogar sowohl das Riechen, Hören, Sehen, Tasten per Telecat als auch der Körper mit Data-Suit (Datenanzug) und Data-Glove (Datenhandschuh) digitalisiert werden, so wird es möglich, die phänomenologische Realität durch die Maschine, den Motor der logischen Inferenz und die Elektronik zu rekonstruieren. Ich erinnere noch einmal daran, wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Meine Beschreibung ist ein Impressionismus. Was da passiert, beherrscht kein Mensch.
Quelle: Sehr französisch und typisch für meine Generation. Mit rasendem Stillstand lebenslänglich im Weltzeitgefängnis. Ein Gespräch mit Paul Virilio, Frankfurter Rundschau, 11. Dezember 1999)