Von Ralf Keuper

Immer mehr Zuschauer nutzen das Filmangebot von Netflix, Amazon und weiterer Streaming-Plattformen. Das alte klassische, lineare Fernsehen befindet sich dagegen auf dem Rückzug (Vgl. dazu: Das lineare Fernsehen ist in zehn Jahren tot – glauben viele junge Erwachsene & Das Endspiel des linearen Fernsehens hat begonnen & Studie: Streaming wird drastische Folgen für TV-Sender haben). Dieser tiefgreifende Wandel der Medienlandschaft begann spätestens mit dem Kauf von YouTube durch Google. Der Pionier der Branche ist jedoch Reed Hastings, Gründer von Netflix. Kein anderes Unternehmen hat die Seh- und Kaufgewohnheiten der Zuschauer in den letzten Jahren so beeinflusst wie das Unternehmen aus dem kalifornischen Los Altos. Netflix ist damit der prominenteste Treiber der Streaming-Revolution, wie Oliver Schütte in Die Netflix-Revolution. Wie Streaming unser Leben verändert darlegt.

Mittlerweile drängen auch andere Konzerne in den lukrativen Markt, wie Disney mit Disney+, Apple mit Apple TV+ und Warner mit HBO Max. Disney und Warner haben den Vorteil, dass sie auf einem großen Filmbestand zurückgreifen können. Netflix bekommt den Einstieg der neuen Akteure durch den Auslauf der Lizenzvereinbarungen für Filme von Warner und Disney zu spüren. Mit seinen Eigenproduktionen kann Netflix die Lücke zumindest in Teilen schließen. Europäische Anbieter wie Bertelsmann/RTL, die sich überwiegend dem linearen Fernsehen verbunden fühlen, hinken der Entwicklung weit hinterher. RTL plant den Aufbau eigener Streamingplattformen, wie mit TV Now (Vgl. dazu: Mehr Exklusiv-Inhalte: So will RTL seine Streaming-Plattform ausbauen). Dennoch geht Schütte davon aus, dass RTL versuchen wird, die Serien und Produktionen seiner linearen Sender (RTL, RTL II und Vox) auf der Plattform zu verwerten. Da die Kosten für einigermaßen hochwertige exklusive Eigenproduktionen auf TV Now zu hoch sind, werde RTL diese zunächst auf dem eigenen Pay-TV-Sender RTL Crime und später im frei zugänglichen RTL-Programm verwerten (Vgl. dazu: RTL will sein Streamingangebot weiter ausbauen). Der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Streamingplattform durch die öffentlich-rechtlichen Sender soll nach den Vorstellungen des ZDF und der ARD ein Gegengewicht zu YouTube schaffen. Dabei wird gerne auf das Beispiel des Airbus verwiesen. Demgegenüber gibt Schütte zu bedenken:

Wer um die schwierigen Entscheidungswege in einem solch komplizierten Konstrukt weiß, wird ahnen, dass es mindestens zehn Jahre dauern wird, bevor die Vision Realität wird – wenn es überhaupt zu einer Gründung kommen sollte. Ein sehr langer Zeitraum in einer Branche, die sich gerade im eigenen gewaltigen Umbruch befindet und in der innerhalb eines Jahres drei große amerikanische Akteure den Markt betreten.

Der Erfolg von Netflix & Co. verdankt sich nicht nur technologischen Faktoren, sondern hat seine Ursache auch in modernen Produktions- und Managementmethoden. Beispielhaft dafür ist die Rolle des Showrunners, die ursprünglich von NBC eingeführt und von HBO verfeinert wurde. Der Showrunner trägt die Verantwortung für eine ganze Serie. Die Stoffe werden dabei in einem Writer’s Room von mehreren Autoren unter Anleitung des Showrunners entwickelt. Der Showrunner selber verfasst häufig nur zwei oder drei Episoden. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit besteht darin, den Stil der Serie festzulegen und zu überwachen. Die Regisseure haben sich daran zu halten. Bekanntes Beispiel eines Showrunners ist David Weiner, Erfinder und Showrunner von Mad Men. Zwar arbeiten auch die deutschen Sender inzwischen mit der Rolle des Showrunners, wobei dessen Autonomie jedoch umgangen wird:

In Deutschland ist es allerdings unmöglich, dass nicht die Regisseure und Redakteure der Sender den Hut aufhaben. Die Strukturen haben sich in den letzten Jahren so verfestigt, dass eine Änderung nur sehr schwer durchzusetzen ist. Darum wird die neue Arbeitsweise in Wirklichkeit bei uns nur halbherzig durchgesetzt.

Schütte ist der Ansicht, dass das Streaming die Individualisierung verstärken werde. Das Gemeinschaftserlebnis, wie sie das lineare Fernsehen in seinen Hochzeiten noch zu vermitteln verstand, wird zur Ausnahme. Davon betroffen sind vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender.

Obwohl wir in Zukunft in einem globalen Filmdorf leben werden, bedeutet das nicht, dass alle Zuschauer dieselben Vorlieben teilen. Es werden, so Schütte, sog. “Taste Communities” entstehen, d.h. weltumspannende Gemeinschaften, die sich durch ihren Geschmack definieren. Kurzum:

Mit den Streamingplattformen werden wir alle in unterschiedlichen globalen Dörfern leben, die vor allem vom Algorithmus der Streamingdienste bestimmt werden.

Der Einsatz von KI und Big Data führt nach Ansicht von Schütte dazu, dass wir unsere Wahlfreiheit einbüßen – so wie im alten linearen Fernsehen, wo die Sendeanstalten darüber bestimmten, was wir wann zu sehen bekommen. Bei allen Vorteilen, die Streamingplattformen uns bieten, sollten wir uns nicht in die passive Rolle drängen lassen, so Schütte. Wir müssten die Kontrolle behalten.

Wie das genau geschehen soll, sagt Schütte nicht. Trotz dieses Mankos ist das Buch sehr zu empfehlen.

Weitere Informationen:

Wie Streaming in den 2010er Jahren alles veränderte

The Truth Behind Netflix’s Incredible Success

Von McLuhan