Von Ralf Keuper
In Deutschland hadern Politiker, Wirtschaftsführer und Feuiletonisten gleichermaßen mit der fortschreitenden Digitalisierung der Lebensbereiche der Menschen. Aktuelles Beispiel ist der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister, der in Es gibt keine digitale Gesellschaft den Beweis zu erbringen versucht, weshalb wir – wieder einmal – einer Chimäre aufsitzen bzw. in der Diskussion einen Kategoriefehler begehen. 
Warum Hachmeister der Ansicht ist, dass wir uns keinesfalls in so etwas wie einer digitalen Gesellschaft befinden, bringt er gegen Ende seines Beitrags auf den Punkt:

Es wäre allerdings das erste Mal gewesen, dass eine technologische Neuerung sich losgelöst von vorhandenen politökonomischen Vektoren hätte entwickeln können. Die von vielen Geeks und Nerds geteilte Bitte um eine Entkörperlichung und Verflüssigung der Conditio humana wurde nicht erhört, weil ein technologisches System selbst keine Antworten gibt, bislang jedenfalls nicht über „Ask Google“ hinaus. … 

Die Erkenntnis technologischer und kultureller Evolutionen ist eine geistespolitische Aktion; sie lässt sich nicht durch technoide Empirie erledigen. Die „digitale Gesellschaft“ wird auch deshalb nicht entstehen, weil mit der Normalisierung des „Digitalen“ der Wert analoger Werkstoffe oder das Biocomputing zulegt. Abgesehen vom soziologischen Kategorienfehler, könnte es also sein, dass die „digitale Gesellschaft“ auch technologisch und ökonomisch rückständiger ist, als es ihre Mitglieder annehmen.

Weshalb mit der „Normalisierung des Digitalen“ ausgerechnet ein Anstieg des Biocomputing einhergeht, erschließt sich nicht aus dem Text. Überhaupt klingt Biocomputing doch stark nach Digitalisierung. Zudem drängt sich der Eindruck auf, dass der Autor die Ebenen, Kategorien durcheinander bringt. 

Was heisst überhaupt Digitalisierung? Auf Wikipedia steht:

Der Begriff Digitalisierung bezeichnet die Überführung analoger Größen in diskrete (abgestufte) Werte, zu dem Zweck, sie elektronisch zu speichern oder zu verarbeiten. Das Endprodukt oder Ergebnis der Digitalisierung wird mitunter als Digitalisat bezeichnet.

Die Wurzeln der Digitalisierung, d.h. die Speicherung diskreter Werte auf bestimmten Medien, wie Tontäfelchen, reichen weit in die Geschichte der Menschheit zurück. In Deutschland setzt sie spätestens im 12. Jahrhundert ein, wie es in Kann Deutschland keine Digitalisierung? heisst. Vor Leibniz waren es Reinher von Paderborn, Wilhelm Schickard und Athanasius Kircher, die sich in Deutschland mit Computerwissenschaften im weiteren Sinn beschäftigt haben. Wenn mit Digitalisierung die Messung und Speicherung von Daten, was nicht zwangsläufig in elektronischer Form geschehen muss, gemeint ist, dann befinden wir uns schon seit langem, neben einer analogen, auch in einer digitalen Gesellschaft. 

Hachmeister begeht selber einen Kategoriefehler, indem er Digitalisierung und Künstliche Intelligenz weitgehend gleichsetzt. 
Der entscheidende Schub für die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte stammt sicherlich von John von Neumann und seiner Forschergruppe am Institute for Advanced Study in Princeton, wie George Dyson in Turings Kathedrale. Die Ursprünge des digitalen Zeitalters schreibt:

Die von John von Neumann rekrutierten Ingenieure griffen auf die Erfahrungen zurück, die sich während des Kriegs als Radartechniker, Kartografen oder Flakschützen gesammelt hatten; sie unterwarfen die Ablenkspulen einer pulskodierten Steuerung und unterteilten den Bildschirm in 32×32 numerisch adressierbare Zellen, die der Elektronenstrahl individuell ansteuern konnte. Weil die vom Strahl erzeugte elektrische Ladung auf der beschichteten Glasscheibe für den Bruchteil einer Sekunde erhalten blieb und periodisch aufgefrischt werden konnte, vermochte jede dieser Kathodenstrahlröhren mit ihren 17 Zentimeter Durchmesser 1024 Bits zu speichern, wobei der Energiezustand jeder Zelle jederzeit abfragbar war. Der Übergang von analog zu digital hatte begonnen.

Wenn man sich anschaut, wie sich die Datenspuren der Nutzer im Netz schon heute zu einem kohärenten Bild zusammensetzen lassen, die die Basis neuer Dienstleistungen, Produkte und Geschäftsmodelle bilden, dann ist die Behauptung, dass es so etwas wie eine digitale Gesellschaft nicht gebe, schon recht gewagt. Von den Möglichkeiten staatlicher Überwachung dank Digitalisierung, die das Verhalten der Menschen in nicht unerheblichem Umfang beeinflusst, wollen wir erst gar nicht reden. 

Weitere Informationen:

Alles digital – oder was?

Digitalization and Digitization

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