Von Ralf Keuper
Es ist fast schon zum Mantra einiger Berater und Autoren geworden, Deutschland mangelnde Fähigkeiten im Umgang mit der Digitalisierung zu attestieren. Einige gehen so weit zu sagen, Deutschland könne überhaupt keine Digitalisierung. 
Sicher – hierbei handelt es sich um Schlagworte, die bewusst einseitig gewählt sind, um der Botschaft mehr Gehör zu verschaffen. Trotzdem tut Differenzierung gerade beim Thema Digitalisierung Not. 
Im Folgenden versuche ich, skizzenhaft, darzulegen, weshalb ich die steile These, Deutschland (d.h. Bevölkerung, Wirtschaft, Wissenschaft und Regierung) könne keine Digitalisierung nicht nur für überspannt, sondern auch für widerlegt halte. Stattdessen werde ich die These formulieren und zu begründen versuchen, dass Deutschland bestimmte Formen der Digitalisierung nicht bzw. nur unzureichend beherrscht. Ein Erklärungsversuch rundet das Panorama ab.
Dass die Aussage, Deutschland könne keine Digitalisierung bzw. Deutschland würde die Digitalisierung wie einen Fremdkörper behandeln, falsch, ja schon absurd ist, zeigt ein Blick ein die Geschichte:
Anfänge der Digitalisierung und Computerisierung in Deutschland
Eines der ersten Werke der Computerwissenschaft, den Computus Emendatus, verfasste im 12. Jahrhundert Reinher von Paderborn. Die erste Rechenmaschine der Welt wurde von Wilhelm Schickard erbaut. Ein weiterer, wenn man so will, Pionier der Digitalisierung in Deutschland, war Athanasius Kircher, auf den die Urform der ältesten Rechenmaschinen zurückgeht. Berühmt wurde die Rechenmaschine von Gottfried Wilhelm Leibniz, die bereits alle vier Rechenarten beherrschte. Nicht zu Unrecht bezeichnete Nils Schiffhauer in der FAZ die Rechenmaschine von Leibniz als einen Urahnen des Computers. In der der noch jungen Geschichte der Informatik gilt Konrad Zuse als Erfinder des ersten funktionsfähigen Digitalrechners. Heinz Gumin entwickelt in den 1950er Jahren bei Siemens den ersten serienfertigen Digitalrechner. In den 1970er und 1980er Jahren verhalf Heinz Nixdorf der dezentrale Datenverarbeitung bzw. der mittleren Datentechnik in Deutschland zum Durchbruch. Nixdorf legte mit seiner Sammlung auch den Grundstein für das Größte Computermuseum der Welt. Hasso Plattner, Dietmar Hopp, Klaus Tschira u.a. schufen mit der SAP AG einen der größten Softwarekonzerne der Welt. 
Alleine vor diesem Hintergrund kann die These, Deutschland könne mit der Digitalisierung nicht viel anfangen, als widerlegt gelten.
Echte Schwachpunkte
Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass Deutschland sich in bestimmten Disziplinen der Digitalisierung ausgesprochen schwer tut. Das betrifft in besonderer Weise die Herstellung von Kleingeräten, Applikationen, die den Nutzer mit mehr als nur bloßer Technik in Verzückung versetzen. Hier hapert es deutlich, wie einige Beispiele verdeutlichen:
Der PC wurde, nicht nur, in Deutschland in seiner Bedeutung unterschätzt. Aus der Produktion von Handys und Computern haben sich deutsche Hersteller, mit wenigen Ausnahmen, zurückgezogen. In der Weltliga spielen deutsche Unternehmen hier keine nennenswerte Rolle. Gleiches gilt für die Unterhaltungselektronik. Nach Grundigs Heinzelmann sind hier keine echten Verkaufsschlager mehr produziert worden. Neben Grundig sind Telefunken, Nordmende und Saba ebenfalls von der Bildfläche verschwunden. Stattdessen setzten hier die Japaner mit Panasonic und Sony lange Zeit den Maßstab, wie mit dem Walkman. Bei den Smartphones geben amerikanische, koreanische, chinesische und japanische Hersteller den Ton an. Eine der wenigen Ausnahmen ist das Segment Haushaltsgeräte, in dem Firmen wie Miele und Braun für gelungenes Design und hohen Bedienkomfort stehen. Der Erfolg von Braun verdankt sich in hohem Maß dem Design von Dieter Rams, den Apple-Designer John Ive als sein großes Vorbild bezeichnet. Es scheint so, als würde deutsches Design seine größten Erfolge im Ausland feiern, wofür neben Rams auch Hartmut Esslinger steht. Noch schlechter sieht es im Bereich Medien aus. Hier spielt kein deutsches Unternehmen mehr eine entscheidende Rolle – auch Bertelsmann nicht. Die großen sozialen Netzwerke stammen alle aus den USA oder Asien/China, die großen Hersteller von Onlinespielen stammen vorwiegend aus den USA und China, die deutsche Filmindustrie ist nicht der Rede wert. 
German Overengineering
Deutschlands Aufstieg zu einer der führenden Industrienationen der Welt steht im engen Zusammenhang mit dem Berufsbild des Ingenieurs. Seitdem gelten Produkte aus deutscher Herstellung als qualitativ hochwertig, zuverlässig und sicher. Da wird auch mal gerne zuviel des Guten getan, weshalb im Ausland auch spöttisch vom deutschen Overengineering (übertriebener Perfektionismus) gesprochen wird.
Die Defizite der ingenieursmäßigen Vorgehensweise erweisen sich im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung und Medialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend als Hindernis. Selbst die Paradedisziplin der deutschen Wirtschaft, die Automobilindustrie, wird von der Digitalisierung erfasst. Die deutschen Hersteller drohen auf die Rolle bloßer Zulieferer reduziert zu werden. Autos sind heute mobile Medien- bzw. Kommunikationsplattformen, die direkt mit dem Internet kommunizieren. Hier haben Unternehmen wie Apple und Google einen kaum einholbaren Vorsprung. Autos werden fahrbare Smartphones, Abspielplattformen. Das ist eine andere Welt, als diejenige, die deutschen Automobilingenieuren und Softwareingenieuren vertraut ist. Ein deutscher Ingenieur, der sein Produkt auch nach Fertigstellung noch mit dem Kunden zusammen weiterentwickelt? Derzeit kaum vorstellbar. 
Ausblick / Offene Fragen
Die Frage ist nun, ob Deutschland dieses Defizit ausgleichen kann, ohne seine unbestreitbaren Stärken aufs Spiel zu setzen. Können wir unsers Wirtschafts- und Medienstil darauf abstimmen? Oder bleiben uns “nur” die Felder Sicherheit und Qualität, wie im Maschinenbau? Können wir nur ganz bestimmte Formen der Digitalisierung? Liegt die Chance der deutschen Wirtschaft ausschließlich in der Industrie 4.0? Reicht das?
Wir werden sehen. 

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