Die erste Voraussetzung für das auffällige Phänomen, dass sämtliche Schriftsteller, die im 18. Jahrhundert die deutsche Literatur begründen, protestantischer Herkunft sind, war die intensive Lektüre des heiligen Textes in deutscher Sprache. Die Kenntnis von Luthers Bibel garantierte den Zugang zu einer allgemeinen, d.h. nicht ständisch gebundenen Schriftsprache; zudem enthält sie ein reiches Repertoire von Geschichten, Charakteren und Weisheitslehren. An Luthers Deutsch war auch die Sprache der evangelischen Predigt und der Erbauungsliteratur ausgerichtet, damit sie von allen Schichten der Bevölkerung gelesen werden konnten. Im Zeitalter humanistischer Gelehrsamkeit und aristokratischer Konversation in fremden Sprachen verschaffte die protestantische Kirche der deutschen Sprache und Schrift Ansehen und Geltung jenseits der Standesschranken. …
Zu der akademischen Ausbildung und dem kulturellen Wissen der Pfarrer bildet ihre materielle Armut, besonders auf dem Lande, einen scharfen Kontrast. Auf christlich-idealistische Weise interpretieren sie ihn als Gegensatz zwischen dem unwesentlichen Schein der Dinge und dem wesentlichen Sein des Geistes. Von daher stammt die Bereitschaft der deutschen Schriftsteller, Armut als Schicksal zu akzeptieren und sich von Verlegern mit geringfügigen Honoraren abspeisen zu lassen. Ein Urheberrecht, in England bereits 1709 eingeführt, existiert in Deutschland nicht …
In der langen Unabhängigkeit von einem fast nicht vorhandenen literarischen Markt lag jedoch auch ein Vorteil: Viele eigensinnige Werke konnten entstehen, über deren Wert nicht vorschnell die Gunst des breiten Publikums entschied. Nicht von der Literatur, sondern für die Literatur lebten die deutschen Dichter.
Quelle: Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur