Von Ralf Keuper

Seine herausgehobene Stellung unter den deutschen Medien bezog der Spiegel lange Zeit aus seinem legendären Archiv. Üblich war, dass ein Journalist bei der Recherche für einen Beitrag die Dienste des Archivs in Anspruch nahm. Auf diese Weise entstand der typische Spiegel-Stil, der erkennen ließ, dass die in dem Artikel verwendeten Informationen nicht ad hoc zu beschaffen waren. Erich Kuby hat dieses Zusammenspiel in seinem Buch Der Spiegel im Spiegel beschrieben. Auf diese Weise entstand eine Kontinuität, ein Erzählkontinuum. Als Leser hatte man den Eindruck, nicht immer wieder bei Null anzufangen. Heute ist der Journalismus vor allem ereignisgetrieben. Jeden Tag scheint die Welt für viele Journalisten neu zu entstehen. Wie ein ZEN-Meister nehmen sie die Haltung eines Anfängers ein, der die Welt jeden Tag mit neuen Augen sieht. Besteht das Ziel des ZEN darin, zur Erleuchtung zu gelangen, so lässt sich das für den Journalismus nicht behaupten.
Sicherlich hatte sich auch beim Spiegel über die Jahre ein Gruppendenken etabliert, das, was in der Literatur auch als Groupthink oder als Gestaltete Umwelten (Karl Weick) kursiert. Allerdings war der Erzählhintergrund ein anderer. Er war konsistenter, bot mehr Orientierung. 
Freilich: Der Spiegel-Stil hat sich überlebt; die Welt ist zu unübersichtlich geworden, als dass sie durch eine bestimmte Folie repräsentiert werden könnte. Auch das beste Archiv kann heute nicht mehr mit dem Internet, z.B. Wikipedia konkurrieren. Das Informationsmonopol ist unwiederbringlich dahin. 
Anders als damals stehen den Journalisten heute mehr Informationsquellen für ihre Recherchen zur Verfügung. Nur machen sie davon kaum Gebrauch. Stattdessen sind für sie die einzig wichtigen Referenzpunkte andere Medien, also das, was andere Journalisten schreiben und denken. Journalisten bewegen sich also vorwiegend in einem selbstreferentiellen System. Wie jedes System, so hat auch dieses seine Grenzen. Neu hinzu gekommen ist in den letzten Jahren der enorme ökonomische Druck mit seinen Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse der Journalisten, was unabhängigem Denken nicht unbedingt förderlich ist. Das wiederum begünstigt die Bildung bzw. Verfestigung von geschlossenen Systemen. Daraus erklärt sich auch die Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung mit der Medienberichterstattung, häufig auf das Schlagwort der “Lügenpresse” reduziert. 
Den meisten Medien fällt es noch immer erstaunlich schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass die Menschen dort draußen durchaus in der Lage sind, sich selbst zu informieren, und das, was sie zu lesen und zu hören bekommen, mit ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen abzugleichen. Auch ist der Wissens- und Bildungsstand vieler Medienkritiker dem des durchschnittlichen Journalisten mindestens ebenbürtig. Früher hatten die Medienkonsumenten außerhalb des Leserbriefes bloß kaum die Gelegenheit ihre eigene abweichende Meinung kundzutun. Das ist heute anders. Diese Machtverschiebung scheinen zahlreiche Journalisten als Palast- oder besser: Zuchthausrevolte zu empfinden. 
Damit werden sie sich jedoch abfinden müssen, wenn sie nicht völlig den Kontakt mit der Außenwelt verlieren und damit marginalisiert werden wollen. 

Die Leser und Hörer erwarten zu Recht vom Journalismus, dass er das vollbringt, wozu den Medienkonsumenten die Zeit fehlt: Intensive Recherche, die Fähigkeit, Ereignisse in einen längeren Zeithorizont integrieren und als Folge davon interpretieren zu können. Widersprüche aufzeigen, Fragen stellen und zum weiteren Nachdenken und Diskussionen anregen. 
Alles andere können die Menschen heute mindestens ebenso gut wie die Mehrzahl der Journalisten. Storytelling, konstruierte Geschichten gehören in die Rubrik Klatsch und Tratsch. 
2 Gedanken zu „Den meisten Journalisten fehlt das Erzählkontinuum“
  1. Ist für Qualitätsjournalismus überhaupt noch Geld da? Es ist viel günstiger auf Agenturmeldungen zurück zu greifen und die dann zu Artikeln zu kompilieren, als überall Korrespondenten zu unterhalten. Darunter leidet vor allem ein in sich geschlossener, stimmiger Stil. Das ist schade.

  2. Vielen Dank für den Kommentar. Stimme zu und möchte noch hinzufügen, dass leider nicht nur Agenturmeldungen zu Beiträgen kompiliert werden, sondern auch Studien einfach kritiklos übernommen werden, ganz gleich, wie dürftig deren Gehalt ist. Da fragt man sich, wozu die Redakteure eigentlich eine kostspielige Ausbildung durchlaufen haben, und dann nicht mal mehr in der Lage oder willens sind, Annahmen und Modelle kritisch zu hinterfragen. Sicherlich ist der ökonomische Druck von nicht zu unterschätzender Bedeutung aber ab irgendeinem Punkt, so meine ich jedenfalls, stellt sich die Frage der eigenen Berufsauffassung und damit auch irgendwann die Sinnfrage.

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