Von Ralf Keuper

Der Fall Relotius wird in den Medien hin und her gewendet, um eine schlüssige Erklärung zu finden. In Die Welt als Reportage  führt der Autor die erfundenen Geschichten des SPIEGEL-Reporters, wohl in Anlehnung an Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, auf seine Imaginationskraft zurück. Der Autor habe sich seine eigene, künstlerische Welt konstruiert. Wichtig waren allein die Stimmigkeit und ästhetische Performance des Textes. Mit Reportage habe das jedoch nichts zu tun. Der postmoderne Journalismus habe ausgedient:

Auch wenn der Spiegel längst nicht mehr die Fabel vom heilsamen Kapitalismus erzählt – der postmoderne Journalismus erlebt jetzt sein größtes Debakel. Er hat nicht über die Wirklichkeit aufgeklärt, sondern sie in schönen Geschichten aufgelöst und in einen suggestiven Glanz getaucht. Er hat dafür gesorgt, dass der Leser sich keine andere Gesellschaft vorstellen kann als die, die es schon gibt.

In den letzten Jahren gingen immer mehr Journalisten dazu über, profane Ereignisse in eine Prosa zu tauchen, die nicht selten nahe am Kitsch angesiedelt ist (Vgl. dazu: Tuchel vs. Watzke: Sündenfall des Sportjournalismus?Wie die FAZ versucht, uns Alice Weidel näher zu bringen). Geschichten im Homestory-Stil, wie man sie sonst nur bei Bunte, Gala und im Goldenen Blatt zu lesen bekam, wurden den Lesern von “Edelfedern” einstmals renommierter Publikationen präsentiert.

In Personenportraits werden den Protagonisten häufig Fähigkeiten zugeschrieben, angedichtet, um sie damit zu einer historischen Ausnahmeerscheinung hoch zu stilisieren. Wie u.a. der Halo-Effekt zeigt, werden hier schnell Personen und Unternehmen mit einer Aura versehen, die sich im Nachhinein als das herausstellt, was sie von Anfang an war: Eine Fiktion, die eher günstigen Umständen als herausragenden Merkmalen geschuldet war. Immer wieder zeigt sich, dass auch dieser Kaiser nackt ist. Insbesondere der Wirtschaftsjournalismus lebt eben davon, Personen und Unternehmen auf eine Fallhöhe zu schreiben, um sie dann bei passender Gelegenheit herunter schreiben zu können. So jedenfalls das Muster aus einer Zeit, als die Medien noch über diese Macht verfügten. Mittlerweile ist die Medienbranche selber Beispiel für einen tiefgreifenden Strukturwandel, für wirtschaftlichen Niedergang. Das wiederum rührt an der eigenen Glaubwürdigkeit, wenn es darum geht, anderen Ratschläge zu erteilen, wie denn das Schiff wieder flott zu bekommen sei. 

Insofern flüchten die Journalisten vor der gesellschaftlichen wie der eigenen Wirklichkeit. Man konstruiert sich gegenseitig eine Welt, die hin und wieder mal von einem “Skandal” erschüttert wird; sobald der Rauch verzogen ist, geht man wieder zur Tagesordnung über.

In ihrem Klassiker Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit schreiben Berger und Luckmann:

Je mehr Verhaltensweisen institutionalisiert sind, desto mehr Verhalten wird voraussagbar und kontrollierbar.Wenn die Sozialisation des Einzelnen in die Institutionen hinein erfolgreich ist, können äußerste Zwangsmittel sparsam und mit Auswahl angewandt werden. Meistens stellt sich Verhalten “spontan” ein – in institutionell vorgeschriebenen Bahnen.

Man eignet sich die Sichtweisen an, die in der Organisation und Institution, in der man tätig ist oder in deren Einflussreich man sich befindet, vorherrschend sind. Das ist an sich nichts Neues. In der Organsiationstheorie spricht man in dem Zusammenhang vom Groupthink, der Wissenschaftsphilosoph Ludwik Fleck bezeichnet das als “Denkkollektiv”, während der Organisationsforscher Karl Weck das Phänomen mit “Gestalteten Umwelten” beschreibt. Pierre Bourdieu wählte den Begriff “journalistisches Feld“.

Allerdings, so Berger und Luckmann:

Institutionalisierung ist jedoch kein unwiderruflicher Prozess, obwohl Institutionen, sind sie erst einmal entstanden, eine Neigung zur Dauerhaftigkeit zeigen. Aus einer Vielzahl historischer Gründe kann der Spielraum für institutionalisierte Tätigkeiten auch kleiner werden. Entinstitutionalisierung gewisser Bereiche des gesellschaftlichen Lebens kann um sich greifen. Die private Sphäre, wie sie sich zum Beispiel in unserer modernen Gesellschaft herausgebildet hat, ist, im Vergleich zur öffentlichen, in beachtlichem Maße frei von Institutionalisierung.

Institutionen müssen Berger und Luckmann zu Folge daher immer bestrebt sein, ihre Legitimation zu rechtfertigen und zu erneuern. Der Verweis auf die eigene lange Lebensdauer reicht hierzu nicht aus, kann sogar ein Grund dafür sein, sich endlich von ihr zu befreien oder sie einem tiefgreifenden Wandel zu unterziehen.

Brisant wird es erst dann, wenn Alternativen zur Verfügung stehen, deren symbolische Sinnwelt, deren Funktion besser zur Gesellschaft passen:

Das Auftauchen einer alternativen symbolischen Sinnwelt ist eine Gefahr, weil ihr bloßes Vorhandensein empirisch demonstriert, dass die eigene Sinnwelt nicht wirklich zwingend ist.

Die Tatsache, dass viele Menschen es vorziehen, sich in den sozialen Netzwerken und alternativen Medien zu informieren, deutet darauf hin, dass die symbolische Sinnwelt der klassischen Medien ernsthafte Konkurrenz bekommen hat. Sie ist nicht mehr die einzig vorhandene – ganz gleich welche (politische) Postion das Blatt, das Medium einnimmt. Demzufolge sind die Medien, wie wir sie (noch) kennen, ein Produkt ihrer Zeit und vergänglich:

Denn:

Weil Sinnwelten historische Produkte der Aktivität von Menschen sind, verändern sie sich.

Die Frage ist nun, wie sich der Journalismus aus dieser misslichen Lage befreien und seine Rolle/Funktion – wenigstens in Teilen – behaupten kann. Sofern der Fehler systemimmanent ist, reichen eigene Maßnahmen zur Qualitätssicherung nicht aus. Nach Kurt Gödel kann keine Theorie, kein System vollständig und konsistent zugleich sein. Es bleiben Lücken. Der Journalismus wird damit leben müssen, selber Gegenstand der Beobachtung und Kritik zu sein. Ein Rückzug in die Schmollecke, in die eigene konstruierte Wirklichkeit, ist in der heutigen Gesellschaft keine Alternative mehr, die Erfolg verspricht.

Oder wie Ernest Gellner schreibt:

Eine Gesellschaft, die an eine expandierende Technologie gefesselt ist und folglich an eine expandierende kognitive Grundlage, kann ihre Wahrnehmung der Welt nicht verabsolutieren oder einfrieren. Eine solche Gesellschaft bekommt ein Gespür für die Unabhängigkeit der vernunftgemäßen Wahrheit von der Gesellschaft, und es fällt ihr schwer, die Idee einer eindeutigen und endgültigen Offenbarung ernst zu nehmen. Ihre hochentwickelte Fähigkeit zu alternativen Konzeptualisierungen desselben Gegenstands und ihr Gespür für die Trennbarkeit von Sachverhalten macht es ihr schwer oder unmöglich, sich eine Weltsicht zu eigen zu machen, die eine autoritative Zuweisung von Rechten und Pflichten und zugleich die Rechtfertigung solcher Zuschreibung impliziert (in: Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen).

Von McLuhan