Von Ralf Keuper

In dem Beitrag Ist das nun mutig oder dumm? in der FAZ vom 9.10.17 berichtet Fridtjof Küchemann von der interdisziplinären Konferenz Das Buch, der Bildschirm und das lesende Hirn, das von der Litauischen Akademie der Wissenschaften in Vilnius ausgerichtet wurde. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie in der Digitalmoderne Kinder durch Lektüre kritische, gebildete und selbständig denkende Menschen werden können. Bisherige Forschungen weisen darauf hin, dass Kinder online kaum die Lernprozesse durchlaufen, die für ein tieferes Verständnis von Texten oder anderen Inhalten nötig sind. Ist das vertiefte Lesen online überhaupt möglich? Küchemann schreibt:

Viele Studien weisen das Lesen auf Bildschirmen grundsätzlich als oberflächlicher, flüchtiger, ablenkungsanfälliger aus. Wenn das Gelesene nicht mit einem festen Ort – auf einer Seite, innerhalb eines Buchs – verknüpft werden kann, weil das Gerät immer nur eine Seite anzeigt oder der Test zum Lesen gescrollt werden muss, hat es die Erinnerung schwer.

Dennoch wollen die Forscher das Rad nicht zurück drehen, wohl aber auf mögliche Konsequenzen des Lesens bzw. der Informationsaufnahme über den Bildschirm hinweisen:

Die Pädagogen, Psychologen, Neuro-, Buch und Literaturwissenschaftler, die drei Tage lang in Vilnius ihre Forschungsergebnisse zur Diskussion gestellt haben, wollen den Bildschirm nicht verhindern. Sie glauben nicht, dass es ein Zurück ausschließlich zum gedruckten geben sollte oder kann. Aber sie dringen darauf, die Risiken ernst zu nehmen, die mit dem Wechsel unseres meistgenutzten Lesemediums verbunden sind: „Die Nutzung digitaler Bildschirme ist jetzt schon Teil unseres Alltags“, sagt etwa Danielle Dahan, „und sie wird noch zunehmen. Es ist wichtig, Lernprozesse im Allgemeinen und Wege, das Gelesene zu verstehen, im Besonderen auf dieses Medium abzustimmen.

Im wahrsten Sinne des Wortes lesenswert ist das Buch Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt von Maryanne Wolf.

Auszug:

Wird unsere Neugier heute durch die Flut glatter, oft oberflächlicher Informationen auf einem Bildschirm befriedigt oder wecken diese ein Bedürfnis nach fundierterem Wissen? Kann die tiefgründige Analyse von Wörtern, Gedanken und Wirklichkeit in einer Lernatmosphäre erfolgen, die fortwährend von geteilter Aufmerksamkeit und Multitasking geprägt ist? Kann die Essenz eines Wortes, einer Sache oder einer Idee bedeutsam bleiben, wenn so viele Lerninhalte in 30-Sekunden-Segmenten über einen Bildschirm flimmern? Sind Kinder, die an immer realistischere Bilder von der Welt um sie herum gewöhnt sind, vielleicht immer weniger in der Lage, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen? Glauben wir eher, dass wir die Wahrheit oder Wirklichkeit von etwas erfassen, wenn wir es auf Fotos, in Filmen und Videos oder im „Reality-TV“ betrachten können? Was würde Sokrates von der filmischen Version eines sokratischen Dialogs halten, von seinem Eintrag auf Wikipedia oder seiner Verewigung in einem Clip auf YouTube?

Von McLuhan

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