Erst die visuellen Techniken, allen voran das Fernsehen, sind in der Lage, die Last der Sprache wirklich abzuwerfen und alles, was einst Programm, Bedeutung, “Inhalt” hieß, zu liquidieren. Den Beweis für die ungeahnten Möglichkeiten des Nullmediums erbringt ein einfaches Experiment. Man setze ein sechs Monate altes Kind vor ein laufendes Videogerät. Der Säugling ist schon aus hirnphysiologischen Gründen unfähig, die Bilder aufzulösen und zu decodieren, so daß sich die Frage, ob sie irgend etwas “bedeuten”, gar nicht erst stellen kann. …

Manche Fernsehveteranen, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben, leiden auch unter der Vorstellung, es könnte ihnen der Stoff ausgehen. Die fixe Idee, es müsse etwas und nicht vielmehr nichts gesendet werden, verleitet sie zur Kannibalisierung der Alten Medien. Das führt vor allem zur Ausschlachtung eines Mediums, von dem man glauben mochte, es sei dem Fernsehen verwandt, nämlich des Films.

Natürlich hat sich bald herausgestellt, daß hier eine Verwechslung vorliegt. Die ästhetische Faszination des Kinos ist auf dem Bildschirm nicht wiederholbar; sie wird durch das lächerliche Format, die Unterbrechung durch Werbespots und das indifferente, endlose Abspielen zerstört; die Geheimwaffe des Zuschauers, das gefürchtete Flipping, gibt dem Film den Rest. …

Überhaupt der Zuschauer! Er weiß genau, womit er es zu tun hat. Vor jeder Programm-Illusion ist er gefeit. Die Richtlinien des Gesetzgebers zerplatzen vor seiner Praxis wie Seifenblasen. Weit davon entfernt, sich manipulieren (erziehen, informieren, bilden, aufklären, mahnen) zu lassen, manipuliert er das Medium, um seine Wünsche durchzusetzen. Wer sich ihnen nicht fügt, wird per Tastendruck mit Liebesentzug bestraft, wer sie erfüllt, durch herrliche Quoten belohnt.

Der Zuschauer ist sich völlig darüber im klaren, daß er es nicht mit einem Kommunikationsmittel zu tun hat, sondern mit einem Mittel zur Verweigerung von Kommunikation, und in dieser Überzeugung läßt er sich nicht erschüttern. Gerade das, was ihm vorgeworfen wird, macht in seinen Augen den Charme des Nullmediums aus.

So erklärt sich auch eine Eigenschaft des Fernsehens, die unter jeder anderen Prämisse rätselhaft wäre: seine transkulturelle Reichweite. Ein und dieselbe Serie, ein und derselbe Video-Clip, ein und dieselbe Show entfaltet, unabhängig von allen gesellschaftlichen Voraussetzungen, die gleiche Anziehungskraft in Lüdenscheid, Hongkong und Mogadischu. So unabhängig von jedem Kontext, so unwiderstehlich, so universell kann kein Inhalt sein. In der Nullstellung liegt also nicht die Schwäche, sondern die Stärke des Fernsehens. Sie macht seinen Gebrauchswert aus. Man schaltet das Gerät ein, um abzuschalten. (Aus diesem Grund ist übrigens das, was Politiker für Politik halten, absolut fernsehtauglich. Während der bedauernswerte Minister sich einbildet, die Ansichten und Handlungen des Zuschauers zu beeinflussen, befriedigt die seimige Leere seiner Äußerungen nur das Bedürfnis des Publikums, von Bedeutungen verschont zu bleiben.)

Quelle: Hans-Magnus Enzensberger: Die vollkommene Leere

 

Von McLuhan

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