Von Ralf Keuper
Der auch als “Wunderpianist” bezeichnete Daniil Trifonov sorgt derzeit in den Konzerthäusern der Welt für Furore. In einem bemerkenswerten Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 5. Dezember 2014 (“Rachmaninow unter Wasser üben”) beantwortete Trifonov einige Fragen zu seinem Spielstil. 
Darin fühlte ich mich an einige Aussagen von Jan Christoph Meister in seinem Festvortrag “Going digital. Vom Einzug des Computers in die Geistes- und Kulturwissenschaften” anlässlich der Gründung des Zentrums für Musik – Edition – Medien in Paderborn vor wenigen Tagen erinnert. 
Darin hob Meister u.a. auf die analoge Ganzheitserfahrung der Musik, im Gegensatz zur zeitpunktbezogenen digitalen Musikerfahrung ab. 
In dem erwähnten Interview gab Trifonov auf die Frage nach dem Timing in seiner Musik zur Antwort:

Es kommt eher darauf an, eine Spannung aufzubauen. Die zeitliche Struktur ist nur ein Faktor von mehreren. Man ist in einem Prozess, man spielt, hört sich dabei zu, reagiert auf das Gespielte und das noch zu Spielende. Ich denke mehr in Zeitzonen. Das Vergangene, als das Verklungene und soeben Verklingende ist eine Zone, das als nächstes Erklingende ist die dritte, und der aktive Raum dazwischen die zweite. Ich bewege mich also in der zweiten Zone und muss dabei die anderen beiden zusammenbringen. Die Zeit oder der Raum, den ein Klang braucht, und die Reaktion darauf erfolgt in Rücksicht auf das Kommende. 

Später stellt Trifonov am Beispiel der Klangfarbe noch einige inspirierende Bezüge zur Malerei her, wie das Interview überhaupt sehr lesenswert ist.
Hier dürfte sich in den nächsten Jahren in Forschung und (Spiel-) Praxis neuartige Ausdrucks- und Sprachformen entwickeln, die auf andere Mediengattungen zurückwirken. Von naturwissenschaftlicher Warte aus hat hier Friedrich Cramer in seinen Büchern Der Zeitbaum und Symphonie des Lebendigen bereits einige Brücken gebaut. 

In letzterem schreibt Cramer:

Ein Musikstück, eine Oper wie Beethovens Fidelio, eine Symphonie ist in jedem Falle hoch rückgekoppelt, jeder Ton hängt zeitlich und räumlich mit allen anderen Tönen zusammen, direkt im gleichen Akkord und indirekt in der Tonfolge, am auffälligsten in der Fuge. Töne und Themen beziehen sich auf frühere Themen, variieren diese oder führen sie durch und zu Ende. Das führt zu Gebilden von unglaublicher Komplexität: Musik hat die Eigenschaft der “Fundamentalen Komplexität”. In solchen Systemen verliert die deterministische Eindeutigkeit ihren Sinn. Ein auslösendes Ereignis kann einmal eine ganze Kaskade von Ereignissen nach sich ziehen, ein andres Mal nichts bewirken. Ein Lebewesen ist paradigmatisch für fundamentale Komplexität. In diesem Sinne ist gute Musik “lebendig”. 

Ein weitere Inspirationsquelle in dem Zusammenhang ist das vom SPIEGEL moderierte Interview zwischen dem Pianisten Lang Lang und dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt
Die SZ berichtet in ihrer heutigen Online-Ausgabe von Trifonovs Klavierabend im Münchener Prinzregententheater. 

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