Von Ralf Keuper

In den 1970er und 80er Jahren stieß Bertelsmann in die Reihe der größten Medienkonzerne der Welt vor. Nach der Übernahme von RCA und Doubleday war Bertelsmann zeitweise sogar der größte Medienkonzern der Welt. Seitdem hat Bertelsmann den Anschluss an die Entwicklung jedoch verloren. Die Bedeutung des Internet erkannte man durchaus; allerdings hatte man dabei kein sonderlich glückliches Händchen. Die Suchmaschine Lycos musste den Betrieb einstellen ebenso wie Pixelpark, auf dem Höhepunkt der Dotcom-Blase höher bewertet als Bertelsmann selbst. Die Beteiligung an AOL Europe wurde gerade noch rechtzeitig versilbert – man fragt sich allerdings, was aus den 16 Mrd. DM Verkaufserlös geworden ist, wenn schon einige Jahre später der Rückkauf des 25%tigen Anteils, den Albert Frère an Bertelsmann hielt, in Höhe von 4,5 Mrd. Euro nur noch über den Verkauf von Unternehmensteilen finanziert werden konnte. Mittlerweile rangiert Bertelsmann auf der Liste der größten Medienkonzerne nur auf Platz 11, was aber geschönt ist, da hier die Umsatzerlöse des Logistikdienstleisters arvato vollumfänglich berücksichtigt werden.

Wie konnte es so weit kommen?

Bedeutung der Neuen Medien wurde systematisch unterschätzt

Im Jahr 1980 war Reinhard Mohn noch der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann AG. Auf der Bilanzpressekonferenz des Geschäftsjahres 1979/80 berichtete die Neue Westfälische in Bertelsmann steht nach Atempause wieder vor einem Wachstumsschub:

Den sogenannten neuen Medien steht der Konzernchef unverändert reserviert gegenüber. Durch sie wären in absehbarer Zeit keine nennenswerten Verschiebungen in der Mediennutzung zu erwarten, zumal die wirtschaftliche Bedeutung der überbewerteten neuen Medien in den nächsten zehn Jahren sehr gering sein werde. Bissiger Kommentar des Konzernchefs: „Ich bin gespannt, wer da ganz groß einsteigen wird“. Mohn – der im übrigen ein Engagement im Zeitungssektor nicht für immer ausschließen will, aber hier derzeit keine festen Absichten hegt – glaubt im übrigen an den Fortbestand unseres öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems, das allerdings seine Exklusivität aufgeben und „vorsichtig“ erweitert werden sollte.

Quantität statt Qualität 

Nach einer kurzen Amtszeit von Manfred Fischer, der Mohn als Vorstandsvorsitzenden ablöste, übernahm dessen Stellvertreter, Mark Wössner, den Chefposten. Dieser wollte, wie er in einem Interview mit dem Industriemagazin im Oktober 1984 äußerte, bei Bertelsmann ein neues Kapitel schreiben. Das Industriemagazin titelte daher: Klasse statt Masse.

Im Vordergrund solle die Qualität und nicht so sehr die Quantität stehen. In dem erwähnten Interview sagte Wössner:

Bertelsmann muss nicht vorrangig größer werden, sondern sich qualitativ weiter entwickeln. Das ist für unser Haus eine Eruption. … wir denken langfristig und nicht okkasionsorientiert – und um die Weiterentwicklung der Medienkompetenz, der Produkt- und Programmqualität.

Wössner plante damals den Ausbau des Unternehmensbereiches Neue Medien (Fernsehen, Hörfunk, Datenbank- und Computergeschäft), der von dem ehemaligen Bundesfinanzminister Manfred Lahnstein mit wenig Fortune geleitet wurde, weshalb er einige Zeit später aus dem Vorstand ausschied.

So richtig hat das mit der Qualität nicht funktioniert. Das lässt sich in besonderer Weise am Beispiel RTL festmachen. Dieser Sender steht für alles mögliche, doch kaum für Qualität und anspruchsvolle Formate. Ohne RTL2 hätte Oliver Kalkofe seine Sendung entweder einstellen oder vom Umfang her reduzieren müssen. Auch Gruner + Jahr kann außer mit GEO nicht wirklich mit Qualität punkten. Der Stern ist hier keine Ausnahme.

Externes Wachstum war immer der Treiber

Bertelsmann ist vorwiegend extern, d.h. durch Übernahmen gewachsen. Beispielhaft dafür sind die Übernahmen von Gruner + Jahr, Bantam Books, RCA, Doubleday und RTL. Mit internem Wachstum alleine hätte Bertelsmann seinen Aufstieg in die erste Liga der internationalen Medienkonzerne nicht geschafft. Im Gegensatz zu heute waren die Unternehmen damals noch zu einigermaßen günstigen Konditionen zu erwerben. Die Finanzierung konnte durch Eigenmittel oder den eigenen Cash Flow erfolgen. Seit einigen Jahren werden für vielversprechende Unternehmen jedoch Preise in Milliardenhöhe verlangt und realisiert. Ein Familienunternehmen tut sich da deutlich schwerer, als ein börsennotierter Konzern.

Verpasste Gelegenheiten: Amazon

Ende der 1990er Jahre war Amazon-Gründer Jeff Bezos auf der Suche nach starken Partnern in Europa. So kam es zum Kontakt mit Bertelsmann. Zur Diskussion stand die Übernahme von 30% von Amazon durch Bertelsmann. Die Verhandlungen scheiterten, da Bezos angeblich einen zu hohen Preis gefordert habe und im Europa-Geschäft mitreden wollte, wie der Spiegel in Duell mit Amazon berichtete. Bei Bertelsmann konnte man sich ohnehin nicht mit dem unkonventionellen Auftreten von Bezos anfreunden. Es wird berichtet, dass Bezos zu einer Verhandlung in Gütersloh in kurzer Hose erschienen sei. Danach soll die Bertelsmann-Seite intern gesagt haben, man mache keine Geschäfte mit jemandem, der in Badehose zu einem geschäftlichen Termin auflaufe.

Mittlerweile hat Amazon Bertelsmann im Buchhandel weit hinter sich gelassen. Amazon ist heute vom Umsatz her deutlich größer als Bertelsmann.

Bertelsmann als Verlierer im Medienmonopoly 

Bis weit in die 1990er Jahre eilte Bertelsmann von einem Umsatzrekord zum nächsten. Das rasante Wachstum stellte das Unternehmen vor Probleme. Die Integration der neu erworbenen Unternehmen wie Doubleday verlief nicht so reibungslos wie gedacht. Es fehlt, so Wössner damals, an geeignetem Führungspersonal. Auch deswegen hielt man sich bei Zukäufen zurück, wie die Wirtschaftswoche in der Ausgabe vom 11. Mai 1990 in Bertelsmann: Macht mit Macken feststellte:

Als etwa im vergangenen Jahr die US-Filmfirma Columbia zum Verkauf stand, rechneten auch die Konzernstrategen aus Gütersloh die Erfolgsaussichten einen Zugriffs durch. Doch Wössner blies auch dieses Mal zum Rückzug. Ihn schreckten nicht nur die Managementprobleme neuer Großkäufe, der Chef hält auch den Medienmarkt für “derzeit völlig überhöht”.

An dieser Linie hielt Wössner fest. Auf Dauer, so die damalige Einschätzung, werde sich der Markt wieder beruhigen und zu normalen Preisen zurückkehren. Dann sei Bertelsmann wieder am Zug:

In einigen Jahren, glaubt Wössner, werde der Kaufrausch in der Branche abebben, die Firmenpreise würden fallen. Dann, reibt sich der Manager die Hände, werde sich auch Bertelsmann die Chance zu neuen Fischzügen bieten.

Es ist eher anders herum gelaufen.

Am Ende seiner Amtszeit musste Wössner einige Schönheitsfehler in der Bilanz einräumen, worüber der Spiegel in Bertelsmann. Reichlich Arbeit berichtete. Die Diagnose im Jahr 1998:

Der Wandel vom Buch-, Presse- und Druckunternehmen zum Multimedia-Haus ist offenbar schwieriger als erwartet.

Wichtige Stammgeschäfte hängen durch, ihre Rentabilität sinkt. Andererseits kosten neue Geschäftsfelder, etwa die elektronischen Medien, erst mal viel Geld. Das gesamte TV-Engagement produziert unterm Strich nur Verluste.

Die neuen Mitbewerber

Zu lange hat man bei Bertelsmann, wie in anderen Medienunternehmen auch, geglaubt, neue Mitbewerber kämen vorrangig aus den eigenen Reihen. Dass Internetkonzerne wie Google, Amazon, Tencent oder Apple einmal die Medienbranche fast im Vorbeigehen nach ihren Vorstellungen formen könnten, war Ende der 1990er Jahren noch undenkbar. Als größter Konkurrent galt lange Zeit die Kirch-Gruppe. Zu der Zeit wurde von vielen Kommentatoren das Schreckgespenst eines Unterhaltungs- und Fernsehmonopols durch Leo Kirch an die Wand gemalt. Als das Imperium sich quasi über Nacht in Luft auflöste, wollte sich daran keiner mehr erinnern.

Lycos, Pixelpark und wkw – Pleiten, Pech und Pannen

Es ist nicht so, als hätte Bertelsmann nicht versucht, die Chancen, die sich boten, zu nutzen – nur sind die Versuche fehlgeschlagen. Die Suchmaschine Lycos stellte ihren Betrieb ein, bevor die Verluste zu groß wurden, die Pixelpark AG, zeitweise höher bewertet als Bertelsmann selbst, wurde von der Publicis Gruppe übernommen, und das soziale Netzwerk werkenntwen (wkw) ist nur noch Geschichte.

Controlling und Portfolio-Denke 

Der enorme Einfluss des Controlling bei Bertelsmann veranlasste den langjährigen Chef von RTL, Helmut Thoma, zu der Aussage:

In Gütersloh sitzt auf jedem Baum ein Controller.

In den Jahren, als der Markt sich nach den Vorstellungen und dem Geschäftsmodell von Bertelsmann entwickelte, konnte das Controlling seine Vorteile ausspielen. Als sich jedoch der Markt zu wandeln begann, sorgte die Zahlenfixierung dazu, dass viele Chancen ausgelassen wurden, da nicht absehbar war, ob und wann ein Gewinn erzielt werden konnte. Stattdessen verlegte man sich darauf, das Unternehmen wie ein Portfolio zu führen. In einem Interview im Jahr 2013 monierte Jürgen Richter, vormals Chef von Springer und danach von BertelsmannSpringer, dass sich Bertelsmann mit seinem neuen Chef Thomas Rabe, dem ehemaligen Finanzvorstand von RTL und Bertelsmann, auf das Portfoliomanagement und strukturierte Finanzpolitik konzentrieren werde.  Grundsätzlich sei bei Bertelsmann, so Richter weiter, “kein großer Drang zu Produktinnovationen und für Kundenlösungen” erkennbar.

Der Befund gilt nach wie vor.

Wachstum? Welches Wachstum?

Nach seiner Amtsübernahme versprach Hartmut Ostrowski der Eigentümerfamilie Mohn die Steigerung des Umsatzes innerhalb weniger Jahre auf 30 bis 35 Mrd. Euro. Heute liegt der Umsatz bei ca. 17 Mrd. Euro. Um das Jahr 2000 betrug der Umsatz unter Thomas Middelhoff 20 Mrd. Euro bei ca. 76.000 Mitarbeitern. Heute erwirtschaften 120.000 Mitarbeiter gerade mal die erwähnten 17 Mrd. Euro. Unter dem Strich, d.h. auch unter Berücksichtigung der Inflation, ist Bertelsmann also seit 2000 real beträchtlich geschrumpft. Der Bildungssektor, der als Wachstumshoffnung betrachtet wird, bleibt bisher weit hinter den Erwartungen zurück. Man hat den Eindruck, als würde Bertelsmann die Unternehmen erwerben, die sonst keiner mehr haben will.

Anschluss verpasst: Vom Medien- zum Logistik- und Servicekonzern

Durch seine Tochter arvato, die mit ca. 70.000 Mitarbeiter den Großteil der Beschäftigten stellt, ist Bertelsmann prominent im Logistik- und Dienstleistungsgeschäft vertreten. Einige, wie die SZ, halten arvato zwar für langweilig, dafür aber für um so mächtiger. Als Grund gibt Autor Caspar Busse an, dass arvato u.a. für facebook die problematischen Beiträge auf facebook löscht und noch weiterhin für Microsoft und Vodaphone tätig ist. Nur – was hat die Tatsache, dass Bertelsmann als Erfüllungsgehilfe für facebook und Microsoft tätig sein darf, mit Macht zu tun? Eher das Gegenteil.

Was die Zukunftsperspektiven von Bertelsmann betrifft, ist die Mehrzahl der Kommentatoren, mit Ausnahme vielleicht der Lokalzeitungen Die Glocke, Westfalen Blatt oder Neue Westfälische, mehr als skeptisch. Beispielhaft dafür sind:

Cash Cow RTL

Seit einigen Jahren steuert RTL den Löwenanteil zum Konzerngewinn von Bertelsmann bei. In früheren Jahren war es Gruner + Jahr, das mit seinen satten Gewinnen die Expansionsstrategie von Bertelsmann mit den nötigen Geldmitteln versorgte. Es fragt sich, wie lange RTL noch die Rolle der Cash Cow übernehmen kann, zumal das Fernsehgeschäft digitaler wird und damit Anbietern wie Google, Apple oder Alibaba noch mehr in die Hände spielt als bisher. Das ohnehin schon überschaubare Qualitätsniveau noch weiter absenken, um neuen Umsatz generieren, stösst bald an natürliche Grenzen.

Die neuen Medienkonzerne, die digitalen Plattformen übernehmen die Macht 

Die große Zeit der klassischen Medienkonzerne wie Bertelsmann ist vorüber. In den letzten Jahren hat sich eine Wachablösung vollzogen, die Lutz Hachmeister in seinem Beitrag Die deutsche Medienindustrie löst sich auf thematisiert.

Längst sind Google, Amazon, Alibaba, Tencent, Apple und facebook im Mediengeschäft an Bertelsmann vorbei gezogen. Die großen digitalen Plattformen können Entertainment, Logistik und Payments auf der einen,  Hardware und Software auf der anderen Seite aus einer Hand anbieten. Facebook zählt mittlerweile 1,7 Mrd. aktive Nutzer. Tencent ist im Gaming-Sektor führend und vereint auf seiner Messaging-Plattform WeChat mehrere hundert Millionen Nutzer. Alibaba hat mit Alipay eine Lifestyle Super App im Angebot, die ebenfalls von mehreren hundert Millionen Menschen genutzt wird. Medienangebote, häufig selbst erstellte, sind nur ein Teil des Angebots. Für Bertelsmann bleibt immer häufiger nur noch, wie das Beispiel facebook zeigt, die Abwicklung, das Fulfilment.

Sicherlich lässt sich auch damit ordentliches Geld verdienen. Große Wachstumsschübe sind damit jedoch nicht zu erreichen. Bertelsmann verfügt über keine eigene digitale Plattform, die es mit Google & Co. auch nur ansatzweise aufnehmen könnte. Gerade für einen Medienkonzern ist das verheerend.

Bertelsmann hat den Anschluss verpasst.

Von McLuhan

Schreibe einen Kommentar